Frau blättert in einem Buch

Jahrestag des Ukraine-Krieges: An der Uni Jena setzt eine geflohene Forscherin ihre Arbeit fort

Autorin: Gudrun Sonnenberg

Die ukrainische Verwaltungswissenschaftlerin Tetiana Kovalova musste ihre Heimat in Charkiw aufgeben. Nicht aber ihre Forschung. In Jena arbeitet sie in einem Projekt zu Aussöhnung und Konflikttransformation – nach dem Krieg. Unterstützt von der VolkswagenStiftung.

Züge. Es ist sind nur Züge. Aber wenn Tetiana Kovalova sie hört, muss sie an das Geräusch denken, das sie aus ihrer Heimatstadt vertrieben hat: russische Militärbomber. Mit dem Tod an Bord flogen sie über Tetianas Haus in Charkiw, der Millionenstadt im Osten der Ukraine, um anschließend die Stadt zu bombardieren. Ab dem ersten Tag des Krieges kamen sie jeden Abend ab 23 Uhr. Jeden Abend. Über dem Haus klangen sie wie die Hochgeschwindigkeitszüge in Deutschland. Nur wie Züge! "Aber das Geräusch war über mir", sagt Tetiana. Und unerträglich.

Jetzt allerdings ist sie es, die über den Geräuschen sitzt: In Jena, weit weg von Charkiw, weit weg von der Front, von der Gefahr und den Ruinen. Tetiana arbeitet in einem Büro im achten Stock des 31-geschossigen Jentower im Zentrum der Stadt. Hier befinden sich Räume des Instituts für Slawistik und Kaukasusstudien der Friedrich Schiller Universität. Das Büro ist eher karg eingerichtet. Neben den zwei Schreibtischen steht eine Polsterliege. Wenn Tetiana Kovalova aus dem Fenster schaut, sieht sie die Dächer der Stadt, das Theater und in der Ferne die Hügel, die Jena umrahmen. Züge hört man hier oben nicht.  

Notbetrieb in Charkiw

In Charkiw lebte sie in einem Haus mit Garten und arbeitete an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität als assoziierte Professorin für Recht, nationale Sicherheit und europäische Integration. Die russischen Angriffe haben den Forschungsbetrieb dort zum Erliegen gebracht, sagt sie. Nur das Hauptgebäude der Uni ist noch funktionstüchtig, nur wenige Kolleg:innen sind noch vor Ort, sie halten einen Notbetrieb aufrecht. 27 Wissenschaftler:innen und Studierende sind tot. Mit zwei von ihnen hatte Tetiana Kovalova zusammengearbeitet. Die Hochschule hat Gedenktafeln aufgestellt. 

Frau zeigt ein Foto eines zerstörten Gebäudes auf dem Handy

Bild der Zerstörung: Dieses Fakultätsgebäude der Universität Charkiw wurde von einer russischen Rakete getroffen.

Im April 2022 haben die Professorinnen und Professoren der Karasin-Universität die Lehre wieder in Gang gesetzt - mit Onlinekursen. Da hatte sich Tetiana Kovalova bereits mit ihrer Mutter und ihrem Sohn innerhalb in der Ukraine aus der unmittelbaren Kampfzone Charkiws heraus gerettet - richtig sicher ist man allerdings nirgends, sagt sie: "Es gibt keinen sicheren Ort in der Ukraine." Von Jena aus unterrichtet sie im Master Programm "Public administrative activity under the conditions of hybrid threats". Ihre ukrainischen Studierenden erreicht sie online. Einer ist Ende 2022 gefallen. Er hat sich bei ihr weitergebildet, war schon 41 Jahre alt und diente als General in der ukrainischen Armee. 

Offene Arme in Jena

In Jena kann sie wieder forschen: In einer Gruppe ukrainischer Kollege:innen, die als Gastwissenschaftler:innen hier sind, mit der Unterstützung der VolkswagenStiftung und weiteren Geldgeber:innen, seit Sommer 2022. Für Tetiana Kovalova hat Ruprecht von Waldenfels das Stipendium bei der Stiftung beantragt; an der Universität Jena leitet er das Institut für Slawistik und Kaukasusstudien. Die Geflüchteten wurden freundlich aufgenommen, sagt Tetiana Kovalova. Deutsche Kolleginnen und Kollegen versuchten bei der Wohnungssuche zu helfen. Gegen die Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme, unter denen sie anfangs litt, konnte keiner was machen. Es war eine posttraumatische Belastungsstörung. Welch ein Glück, Arbeit zu haben: "Ich habe jede Aufgabe übernommen, die ich kriegen konnte, um auf andere Gedanken zu kommen", erzählt sie.

Frau auf einem Platz, im Hintergrund Gebäude

Arbeitsplatz im Zentrum der Stadt: Das Büro der Wissenschaftlerin liegt im 31-geschossigen Jentower (im Hintergrund).

Forschung zur Demokratie nach dem Krieg

Die Arbeit, das ist die Forschung über Propaganda, Desinformation und psychologische Kriegsführung und die Optionen, den hybriden Bedrohungen durch den Aufbau widerstandsfähiger demokratischer Strukturen und sozialer Regulationsmechanismen entgegenzuwirken. Dazu gehört als Ziel, die russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainer in die ukrainische nationale Identität zu integrieren und der staatlichen russischen Einflussnahme zu entziehen.

Es ist jetzt eine Frage der nationalen Sicherheit, wie die Ukraine mit der russischen Sprache umgeht.

Tetiana Kovalova untersuchte auch die Rolle der Sprache. "Es ist jetzt eine Frage der nationalen Sicherheit, wie die Ukraine mit der russischen Sprache umgeht", sagt Kovalova. Und es ist eine Frage für die Zukunft, denn die Forschungsergebnisse sollen in die ukrainische Gesellschaft transferiert werden. Es gibt eine Vereinbarung zwischen dem Institut für Öffentliche Verwaltung der Karasin-Universität und dem Jena Center for Reconciliation Studies der Friedrich Schiller Universität, ein bilaterales Studienprogramm aufzubauen und mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenzuarbeiten, um nach dem Krieg die ukrainische Demokratie zu stabilisieren. 

Kooperation, eine Überlebensfrage

Zudem hat Tetiana Kovalova zusammen mit ihren deutschen Kollege:innen ein Memorandum der beiden Universitäten initiiert, das den Willen zu weiterer Zusammenarbeit bekundet, etwa beim Austausch von Studierenden und Forschenden, gemeinsamen Projekten und Studienprogrammen. Dahinter steht das große und existenzielle Ziel, dem sich die ukrainischen Wissenschaftler:innen überall verpflichtet fühlen: die Lehre aufrechtzuerhalten, Austausch von Studierenden und Forschenden zu organisieren und so dafür zu sorgen, dass die Studierenden, die es aus ihrer Heimat in andere Städte, andere Länder oder in den Krieg verschlagen hat, ihr Studium fortsetzen und abschließen können. Es sei eine Überlebensfrage für die ukrainische Nation. "Wenn das nicht gelingt und wir nicht weiterarbeiten können, verlieren wir unsere Ressourcen", sagt sie.

Frau tippt auf einem Laptop

In Online-Kursen unterrichtet Tetiana Kovalova ihre ukrainischen Studierenden von Jena aus .

Sie hofft, dass sich viele deutsche Wissenschaftler:innen am Lehrbetrieb für die ukrainischen Studierenden und den Kooperationen beteiligen werden. "In Deutschland hatten die Wissenschaftler:innen die Ukraine nicht auf dem Schirm", sagt sie, "der Krieg hat viele erst darauf aufmerksam gemacht, dass wir existieren." In der Ukraine transformiere sich das Bildungssystem, und: "Es gibt eine ganz neue Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft." Der Krieg verändere alles. "Er sollte als Ressource verstanden werden, Bildung und Wissenschaft weiterzuentwickeln", sagt Tetiana Kovalova.

So kann man einen Krieg auch gewinnen.  

Es gibt eine ganz neue Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Das Forschungsprojekt in Jena 

Wie geht es nach dem Krieg in den russischsprachigen Regionen der Ukraine weiter?  Damit befasst sich das Projekt "Public Policy and Institutional Change in the Middle of Conflict" des Jena Center for Reconciliation Studies der Friedrich Schiller Universität und des Educational and Scientific Institute "Institute of Public Adminstration" der V.N. Karazin Universität in Charkiw. Bereits vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 versuchte Russland mit Medienkampagnen und Desinformation in psychologischer Kriegsführung die Ukraine zu destabilisieren und die Invasion vorzubereiten. Solche Strategien werden auch in anderen Staaten beobachtet. Dagegen wirken die Stärkung nationaler Identität und Demokratisierung. Mit dem Projekt sollen die Transformation der Konflikte in den russischsprachigen ukrainischen Regionen und die Aussöhnung erforscht, ein Ph.D.-Programm für ukrainische Studienabsolventen entwickelt und eine Forschungszeitschrift etabliert werden. 

Ukrainische Flagge

Das Stipendienprogramm der Stiftung für geflohene Forscher:innen (beendet)

Die VolkswagenStiftung hat bereits eine Woche nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein Stipendienprogramm ausgeschrieben. Gastgebende Universitäten und Forschungseinrichtungen konnten Fördermittel beantragen, um geflohenen Forscher:innen aus der Ukraine eine Fortsetzung ihrer Arbeit zu ermöglichen. Bis zum Stichtag am 5. April 2022 wurden für 275 Stipendien 9 Mio. Euro bewilligt. 85 Prozent der Geförderten sind weiblich. Zum Zeitpunkt der Bewilligung planten die meisten ein Jahr in Deutschland zu bleiben. Da ein Ende des Krieges aber nicht absehbar ist, bleibt auf absehbare Zeit eine Rückkehr unwahrscheinlich.