Die Neurowissenschaftlerin Sarah McCann will biomedizinische Forschung hochwertiger und reproduzierbarer machen. Die VolkswagenStiftung fördert ihr Projekt als Pioniervorhaben im neuen Profilbereich Wissen über Wissen.
Interview

Mehr Qualität in der präklinischen Forschung: Vernetzt statt allein

Dr. Ulrike Gebhardt

Die Neurowissenschaftlerin Sarah McCann will biomedizinische Forschung hochwertiger und reproduzierbarer machen. Die VolkswagenStiftung fördert ihr Projekt als Pioniervorhaben im neuen Profilbereich "Wissen über Wissen".

Sarah McCann vom QUEST Center des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) hat ein ehrgeiziges Ziel und eine feste Überzeugung: Nur durch Offenlegung und Vernetzung biomedizinischer Daten und in einem Wissenschaftssystem, in dem sich jeder als Teil eines großen Teams versteht, kann Forschung wirklich erfolgreich sein. Ihre Idee: "Communities for Open Research Synthesis" etablieren. Die Göttinger Wissenschaftsjournalistin Ulrike Gebhardt wollte Näheres über das Vorhaben COReS erfahren.

Dr. McCann, welche Rolle spielt Ihr wissenschaftlicher Hintergrund für Ihr Vorhaben?

Ich komme aus Australien und habe an der Universität Melbourne Neurowissenschaften und Physiologie studiert. Während meiner Doktorarbeit beschäftigte ich mich mit den Nervenschädigungen, die nach einem Schlaganfall auftreten können. Das Ziel war, mit Hilfe eines Mausmodells Therapien für Schlaganfall-Patienten zu entwickeln. Dabei und bei einem Forschungsaufenthalt an der Universität Newcastle wurde mir eindrücklich ein Problem der präklinischen Forschung vor Augen geführt: Therapien scheinen im Tiermodell erfolgversprechend, in der klinischen Studie bei erkrankten Menschen zeigt sich dann leider kein Nutzen. Das Problem des "translational failure" ist nicht nur in der Schlaganfall-Forschung verbreitet, sondern ganz allgemein in der Biomedizin. 

Wie kommt es zu diesem Übertragungsproblem?

Da gibt es ganz verschiedene Ursachen: Die Tiermodelle können ungeeignet für die Fragestellung am Menschen sein. Oder sie haben falsch positive Ergebnisse hervorgebracht. Oder die Studien sind beim Menschen nicht unter den gleichen Bedingungen gelaufen, wie im Tiermodell. Durch ein fehlerhaftes Studiendesign oder eine lückenhafte Berichterstattung über die Ergebnisse werden die Behandlungseffekte in Tierstudien häufig überschätzt. Meist sind negative Daten nicht öffentlich verfügbar, was zu einer Schieflage in der Wahrnehmung führt. Wenn falsche Ergebnisse die Grundlage für klinische Studien werden, ist ein Scheitern vorprogrammiert.

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Kann man die Größe des Schadens, der durch das Übertragungsproblem entsteht, in Zahlen ausdrücken? 

In der präklinischen Schlaganfall-Forschung sind schätzungsweise weniger als die Hälfte der veröffentlichten scheinbar erfolgversprechenden Ergebnisse tatsächlich erfolgversprechend. Das Ausmaß des Übertragungsproblems variiert. Aber die Mehrheit der Therapeutika, die in der präklinischen Forschung als vielversprechend identifiziert wurden, fallen in den späten klinischen Testphasen durch. Wie groß das Problem ist, lässt sich nicht nur in Verlusten an Geld oder Zeit ausdrücken. Es gibt vor allem auch ethische Konsequenzen. Menschen setzen sich Therapien aus, die nutzlos oder sogar gefährlich für sie sein können.

Welchen Ausweg gibt es Ihrer Meinung nach?

Durch meine eigenen Erfahrungen in der Forschung war ich motiviert, hinter die Ursachen der schlechten Übertragbarkeit zu kommen. In meiner Zeit an der Universität Edinburgh schloss ich mich schließlich der "CAMARADES"-Gruppe (Collaborative Approach to Meta-Analysis and Review of Animal Data from Experimental Studies) an. Die Kolleg:innen dort verfolgen das Ziel, die präklinische Forschung zu verbessern, indem sie veröffentlichte Daten in Form von systematischen Reviews und Meta-Analysen zusammenfassen. Seit über drei Jahren bin ich nun am QUEST Center des BHI, wo ich ebenfalls eine CAMARADES-Gruppe aufgebaut habe. Mit dem Vorhaben COReS möchten wir das nun ausbauen und breiter etablieren. Der Projekttitel steht für "Communities for Open Research Synthesis – accelerating translation of biomedical evidence”.

Warum könnten systematische Reviews ein Ausweg sein?

Ein systematischer Review stellt alle Studiendaten zusammen und gibt so eine Übersicht des Wissens in einem definierten Forschungsbereich und über die Qualität der Daten. Er ermöglicht, Wissenslücken zu entdecken. Um ein vollständiges Bild der Sachlage zu erhalten, können auf dieser Grundlage weitere Forschungsarbeiten geplant werden. Der systematische Review erhöht nicht nur die Chancen, dass die vielversprechendsten Therapien, also solche mit der robustesten Beweislage, tatsächlich in die klinische Forschung vorrücken. Es werden auch doppelte und unnötige Experimente vermieden. Dadurch verringert sich auch die Anzahl an Tierversuchen.

Wen in der Community wollen sie mit COReS ansprechen?

Ideal wäre, wenn jeder in der biomedizinischen Forschung erreicht würde und mitmachte. Am wichtigsten sind zunächst die Forscher:innen, die im Labor stehen und die Daten produzieren. 

Ideal wäre, wenn jeder in der biomedizinischen Forschung erreicht würde und mitmachte.

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Wie soll COReS konkret funktionieren? 

Bisher gab es nur eine kleine Community, die systematische Reviews erstellte – aber zumeist ohne direkte Anbindung an die Forscher:innen, die die Daten primär liefern. In den COReS-Gruppen möchten wir die Wissenschaftler:innen mit Statistiker:innen und Informationswissenschaftler:innen zusammenbringen.

CAMARADES als internationales Netzwerk fördert die Erstellung präklinischer Reviews. Das Berliner CAMARADES-Team will nun mit COReS die Grundstruktur für eine langfristige Einbindung des systematischen Reviews in die Forschungspipeline anbieten; zunächst für medizinische Forschungseinrichtungen in Deutschland. Das CORes-Projekt baut auf die vorhandene CAMARADES-Infrastruktur auf und will mittels einer spezifischen Kooperationsplattform und über Teambildungsinitiativen solche wichtigen Ergebnissynthesen auch auf breiter Basis ermöglichen. 

Ein Beispiel, wie COReS funktionieren könnte, ist, dass sich Doktorand:innen aus Forschungsteams zusätzlich einer lokalen oder überregionalen COReS-Gruppe anschließen. Dort beteiligen sie sich an der Erstellung einer Übersicht über die bereits existierende Literatur im eigenen Forschungsfeld. Die Ergebnisse daraus fließen in das eigene experimentelle Vorgehen ein. Die Daten daraus werden wiederum direkt in den Review übertragen. 

Sarah McCann forscht im QUEST Center des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).

Sarah McCann forscht im QUEST Center des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).

Wie lässt sich das erreichen?

Im Rahmen von COReS planen wir die Initiierung einer oder mehrerer solcher Gruppen in der Charité. Diese Modellgemeinschaft wird an die Bedürfnisse der Mitglieder angepasst und dann auf unsere ausgewählten "Early Adopter"-Institute in Deutschland ausgeweitet. Das Wichtigste ist, dass wir von Anfang an durch die Einbeziehung der Forscher:innen selbst ein von der Gemeinschaft angetriebenes Netzwerk aufbauen können, das sich letztendlich selbst trägt.

Wir brauchen einen echten kulturellen Wandel: weg von der individuellen hin zur teamorientierten Wissenschaft.

Wie muss sich "das System" verändern? 

Wir brauchen einen echten kulturellen Wandel: weg von der individuellen hin zur teamorientierten Wissenschaft. Wir brauchen außerdem die Anerkennung des Nutzens qualitativ hochwertiger und reproduzierbarer Wissenschaft. Das klingt selbstverständlich, ist es in den gegenwärtigen akademischen Strukturen aber leider nicht: als Qualitätsmerkmal wird hauptsächlich noch immer eine Erst- oder Seniorautorenschaft einer Publikation in einem "High-Impact"-Journal gewertet und nicht die Qualität einer Studie beziehungsweise ihre Notwendigkeit im Kontext der gesamten Studienlage.

Was sollten Schritte hin zu einer solchen anderen Wissenschaft sein?

Unserer Meinung nach ist da die universitäre Ausbildung ganz wichtig, zumal sich viele Forscher:innen mit dem systematischen Review oder Themen wie der Ergebnissynthese nicht gut auskennen. Das Wissen darüber sollte im Idealfall schon im Studium vermittelt werden. Ansonsten spätestens mit Beginn der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Wir wollen etwa bei Doktorand:innen oder Postdocs durch Schulungen das Bewusstsein für den Nutzen von systematischen Reviews wecken und den Wissenschaftler:innen die Fähigkeiten an die Hand geben, solche Reviews selbst zu erstellen und in ihren Workflow zu integrieren. Das alles kostet Zeit und Geld. Wir freuen uns, dass die VolkswagenStiftung den Wert unseres Anliegens sieht und unterstützt.

Unseres Wissens sind wir die Ersten, die konkret die Bildung von Kollaborationen anregen, mit dem Ziel der Synthese und Integration von Daten.

Für welche Disziplinen außerhalb der Biomedizin könnte Ihr Projekt noch von Interesse sein?

Für die meisten! In jedem Fachgebiet ist es wichtig, sich zuerst einen Überblick über die Datenlage und die Qualität dieser Daten zu verschaffen. Das Ergebnis einer einzigen Studie ist wohl kaum ausreichend, um zu entscheiden, in welche Richtung die Forschung in der Zukunft weitergehen soll. Viele Disziplinen auch außerhalb der Biomedizin nutzen den systematischen Review bereits. Aber unseres Wissens sind wir die Ersten, die konkret die Bildung von Kollaborationen anregen, mit dem Ziel der Synthese und Integration von Daten. Im Rahmen unseres Pilotprojektes an der Charité haben wir Schulungsmaterial für Workshops zum Thema entwickelt und damit bis jetzt über 170 Trainees und Forscher:innen versorgt. 23 Projekte konnten wir bisher methodisch unterstützen. Wir nutzen eine freie, open-access Online-Plattform, "SyRF", mit der systematische Reviews und Meta-Analysen erstellt werden können. Dieses Tool unterstützt die Vernetzung von Forschenden weltweit. Mehr als 850 wissenschaftliche Projekte sind bei SyRF registriert, hauptsächlich solche, die im Rahmen biomedizinischer Forschung auch mit Tieren arbeiten.

Welche Widerstände sind zu überwinden?

Forscher:innen sind meist sehr beschäftigt und manche nicht besonders vertraut mit den Methoden, die wir vorschlagen. Wir sehen den Mangel an Zeit und Ressourcen, mit dem die meisten zu kämpfen haben. Wir legen daher unseren Fokus auf die Bewusstwerdung des Problems und auf das Angebot der geeigneten Infrastruktur, damit die Hürde für die Umsetzung möglichst niedrig ist. Wir fragen beispielsweise auf institutioneller Ebene nach, wo oder wann wir unsere Schulungsangebote am besten in die strukturellen Abläufe einbinden können. Es wird wichtig sein, den Nutzen, aber auch die Begrenzungen unserer Methoden effektiv zu kommunizieren, um Widerstände zu überwinden.

Wie hoch schätzen Sie die Chancen für eine gelungene Umsetzung? 

Wir haben viel Arbeit in die Umsetzungsplanung investiert und meinen, die Zeit ist reif für COReS. Wissenschaftler:innen wollen, dass ihre eigene Forschung bedeutsam und effektiv ist, und unsere Initiative kann dabei helfen. Die Infrastruktur, die wir entwickeln, wird für die Nutzer frei und open-access sein. Jeder der einen Review erstellen möchte, wird dazu am Ende in der Lage sein. Wir glauben, dass wir alle Zutaten für einen Erfolg beisammenhaben und mit Hilfe des Projektes einen dauerhaften Wandel schaffen können. Ich bin optimistisch.

Die Neurowissenschaftlerin Sarah McCann will biomedizinische Forschung hochwertiger und reproduzierbarer machen. Die VolkswagenStiftung fördert ihr Projekt als Pioniervorhaben im neuen Profilbereich Wissen über Wissen.

Das Projekt "COReS"

Das Projekt "COReS" (Communities for Open Research Synthesis – accelerating translation of biomedical evidence) will Forscher:innen und Informationsspezialist:innen zusammenbringen, um die Qualität der biomedizinischen Forschung zu verbessern. In Form eines offenen Netzwerkes sollen Daten aus der präklinischen Forschung in Reviews erfasst, qualitativ und quantitativ eingeordnet und Forschenden weltweit zugänglich gemacht werden.

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